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Hinter jeder Maske steht eine Geschichte

Interview mit Ruth Deutsch de Lechuga

In Mexico fanden in den vierziger Jahren viele Flüchtlinge aus ganz Europa Zuflucht, die wegen antifaschistischer Aktivitäten  oder aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden. Die politischen Flüchtlinge versuchten nach Kriegsende so schnell wie möglich nach Europa zu kommen, sie glaubten an einen sozialistischen Neubeginn. Die jüdischen Flüchtlinge verspürten dagegen wenig Bedürfnis zurückzukehren: ihre Angehörige waren ermordet worden, den Antisemitismus hatten sie nicht nur bei den Nazi-Verantwortlichen, sondern beim größten Teil der Bevölkerung erlebt. Viele jüdische EmigrantInnen gingen in die USA oder nach Palästina, andere entschieden sich, in Mexico zu bleiben. Zu letzteren gehörte die 1920 in Wien geborene Ruth Deutsch. Sie studierte in Mexico Medizin und wurde darüber hinaus eine bekannte Anthropologin und Fotografin. Außerdem engagiert sie sich politisch – vor allem im Rahmen der linken „Partei der Demokratischen Revolution“ PRD. Ulrike Schätte sprach mit ihr  in Mexico-Stadt .

Ulrike Schätte

Ruth, Sie waren 18 Jahre alt, als Hitler im März 1938 Österreich annektierte. Wie erinnern Sie sich an dieses Ereignis?

Ich war damals eigentlich noch sehr kindlich. Ich habe alles so selbstverständlich genommen, mir ist nicht in den Sinn gekommen, daß so eine große Umwälzung stattfinden könnte. Am Tag des Anschlusses habe ich die Wiener absolut nicht wiedererkannt. Im allgemeinen sind die Leute dort ziemlich zurückgezogen und leben in ihren Häusern. Sie auf der Straße jubeln zu sehen, war natürlich ein großer Schock; denn man hat sofort gesehen, daß von dem Moment an das Leben anders sein wird. Soweit es möglich war, habe ich danach „normal“ weitergelebt in dem Sinn, daß ich noch Matura (Abitur – die Red.) gemacht habe, was sich später als großer Vorteil herausstellte; denn dadurch bin ich schon mit etwas Abgeschlossenem hergekommen.
Vor der Kristallnacht im November 1938 ist mein Vater gewarnt worden, deshalb hat er sich versteckt gehalten, und meine Mutter hat noch gearbeitet. Zu Hause waren also nur mein Bruder, der vier Jahre jünger ist als ich und der wirklich noch ein Kind war, und meine Großmutter, die eine alte Dame war. Ich war die einzige mehr oder weniger Erwachsene, und so hat man mich mitgenommen, und zwar in das Hauptquartier, das das Gebäude war, in dem ich die Volksschule gemacht habe. Das war natürlich ein Schock, da hinzukommen. Ich habe die Schreibmaschine meiner Familie mitnehmen müssen, was damals etwas sehr Großartiges war. Die haben sie dort behalten. Aber sie haben nicht so recht gewußt, was sie mit mir anfangen sollten; denn wo mein Vater war, habe ich wirklich nicht gewußt. Es waren auch meine Schulkolleginnen dort, ich bin in eine Mädchenschule gegangen, wie das damals so üblich war, und das war wieder ein Schock zu sehen, daß alle Nazis waren. Sie haben mich angespuckt und mich zum Vergnügen die Stiegen aufreiben lassen. Doch dann ist es ihnen zu dumm geworden, und sie haben mich losgelassen. Ich bin wieder nach Hause gegangen, und das war alles.

Haben Sie den Antisemitismus als junges Mädchen in Österreich schon vorher bewußt wahrgenommen?

Nein, eigentlich nicht. Da meine Familie nicht religiös war, habe ich ja selber nicht gewußt, worin der Unterschied besteht, Jude zu sein oder nicht.

Warum sind Sie ausgerechnet nach Mexico emigriert?

Meine Mutter hatte dort einen Bruder. Er war schon lange in Mexico und verschaffte uns die Möglichkeit, auch herzukommen. Es war damals nicht leicht, irgendwohin auszuwandern. Unsere ganze Familie ist gekommen, mein Vater, meine Mutter, mein jüngerer Bruder, meine Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins, und sogar meine Großmutter konnte, zwar ein bißchen später als wir, noch hierher kommen. Wir sind mit dem Schiff von Holland aus, von Vlissingen, abgefahren.
Nach der Kristallnacht hatten wir im Dezember 1938 den Versuch gemacht, illegal über die Grenze nach Holland zu gehen, weil wir nicht verstanden haben, warum es so lange gedauert hat, die Papiere von hier zu bekommen. Man hat uns erwischt, und wir sind zurückgeschickt worden, aber wir konnten meinen Bruder, der noch nicht fünfzehn war, in einem Heim für Flüchtlingskinder lassen. Wir sind wieder nach Wien zurückgekommen und haben bei meiner Großmutter, die dort noch eine Wohnung hatte, unser Visum aufgefunden. Wir sind ohne weiteres wieder nach Wien zurückgekommen, aber wir hatten Angst, daß man uns an der Grenze einsperren würde. Es war nicht so, Gott sei Dank. Wir haben dann gleich die Auswanderung erneut betrieben. Die Möbel hatten wir schon lange vorher nach Mexico geschickt. Wir bekamen ein Transitvisum für Holland, was uns erlaubte, für eine gewisse Zeit dort sein zu können und das Schiff zu erwarten. Wir waren ungefähr eine Woche in Amsterdam und haben meinen Bruder abgeholt. Das war nicht leicht, mein Vater hat ziemlich kämpfen müssen, denn sie wollten ihn nicht zurückgeben. Mit dem Schiff sind wir nach New York gekommen, wo wir zwei Wochen geblieben sind. Eine Nacht mußten wir in Ellis Island bleiben, wie alle Flüchtlinge. Das ist etwas, was wir uns damals absolut nicht erklären konnten, wir haben ein Durchreisevisum gehabt, und es kam für uns gar nicht in Frage, dort zu bleiben, denn es wäre nicht legal gewesen, es wäre uns gar nicht in den Sinn gekommen. Von New York nach Mexico sind wir mit dem Zug gefahren. Im Zug hat man uns natürlich an der Grenze aussteigen lassen, wir waren 24 Stunden in Ladero. Wir sind schließlich hierhingekommen und von unseren Verwandten abgeholt worden. Sie hatten schon eine kleine Wohnung für uns gemietet. Es war eigentlich alles normal und ohne große Aufregung. Es ist uns eine Zeitlang nicht so sehr gutgegangen, also das Geld ist ausgegangen, es war nicht leicht, hier ein neues Leben anzufangen. Wir haben alle kein Wort Spanisch gekonnt. Mein Vater hat Stunden genommen, aber ich nicht. Ich habe das Spanische praktisch gelernt. Ich habe mich sehr rasch eingewöhnt, weil ich hier in die Schule gegangen bin. Später habe ich Medizin studiert. Von Anfang an habe ich Freundschaften mit den Mexicanern geschlossen. Die Kultur und die damaligen politischen Verhältnisse in Mexico haben mich sehr beeindruckt, weil es hier eine wirkliche Demokratie gab. Wir haben im faschistischen Europa mit der Angst gelebt, umgebracht zu werden. Hier hatten wir die Freiheit, uns auszusuchen, was wir machen wollten und unser Denken auszudrücken. Es war damals weniger als ein Jahr her, daß das Öl nationalisiert worden ist, was eine große Tat war. Das alles hat mich sehr zu Hause fühlen lassen. Gleichzeitig habe ich sofort verstanden, was mich heute sehr wundert, weil ich doch recht jung war, daß es eine ganz andere Kultur ist, daß man diese nicht an österreichischen oder europäischen Standards messen kann. Ich habe mich darauf eingestellt zu verstehen und zu lernen und wie eine Mexicanerin zu denken. Ich habe einen Mexicaner geheiratet, und es ist mir eigentlich nie in den Sinn gekommen zurückzugehen. Es war mir selbstverständlich, ein anderes Leben hier anzufangen.

War es damals für Ihren Onkel so einfach, Ihnen und Ihrer Familie ein Visum zu besorgen?

Nein, wir haben natürlich Geld geschickt, aber es war politisch doch ganz anders als heutzutage in Mexico, es war die Zeit von Lázaro Cárdenas, der politische oder rassische Flüchtlinge aufgenommen hat. Es war viel leichter. Man hat auf jeden Fall den unteren Behörden dafür zahlen müssen, aber von der Regierung aus war es erlaubt, und nach fünf Jahren konnte man Mexicaner werden, was heutzutage fast unmöglich ist.
Der Unterschied zwischen Arm und Reich war damals nicht so groß wie jetzt. Die Armen waren nicht so arm, und vor allem war mehr Hoffnung da. Zapatismus war noch etwas ganz Aktuelles. Die Leute haben ihr Land mit Stolz bebaut, sie waren keine Sklaven mehr, was sie heute wieder sind. Auch wenn sie rechtlich frei sind. Die Mittelklasse ist inzwischen auch betroffen. Noch vor fünfzehn bis zwanzig Jahren konnte man mit einer Anstellung recht gut leben, aber heutzutage muß man schon ein bißchen die Centavos zusammenhalten.

Als Sie damals angekommen sind, standen Sie in Kontakt zu anderen Emigrantinnen und Emigranten?

Ja, da war eine Gruppe, ich weiß nicht mehr, wie die hieß, wir haben zusammen Ausflüge gemacht, die Älteren auch kulturelle Veranstaltungen. Mein Vater und mein Onkel waren ziemlich engagiert im Heine-Klub, damals sind interessante Leute hergekommen, die später aber wieder zurückgegangen sind. Nachdem ich dann bald auf die Universität gegangen bin – ich habe Medizin studiert – habe ich eigentlich rasch einen mexicanischen Kreis gefunden. Das hat sich so ergeben. Das war mir nicht einmal bewußt, aber doch finde ich, daß es das Richtige war. In einem Getto zu leben, ist schlimm genug, sich ein eigenes Getto aufzustellen, nur weil man nicht mit anderen Leuten verkehrt und ein Leben lang steckenbleibt in dem, was man in der Jugend gehabt hat, ist schlimmer. Es ist eine unnütze Begrenzung.

Wie ist es Ihrer Familie hier in Mexico ergangen?

Mein Vater war Kaufmann, hat aber nie sein eigenes Geschäft geführt. Er ist in irgendeine große Firma hereingekommen. Meine Mutter hat eigentlich, so lang sie konnte, gearbeitet. Sie konnte nicht sehr gut Spanisch. Sie hat das Nötige gelernt, um sich zu verständigen, aber ihre Sprache ist immer das Deutsche geblieben. Sie hat als Kassiererin in einem Geschäft eines Österreichers gearbeitet. Sie ist bald gestorben, sie war krank. Mein Vater hat sich schon früher von ihr geschieden und wieder geheiratet. Er hat dann die Arbeit aufgegeben, da er eine recht gute Kompensation bekommen hat. Er hat das eingerichtet, ein bißchen Geld zu machen, sie waren wirkliche Lebenskünstler. Mein Vater ist 1991 im Alter von 96 Jahren gestorben, meine Stiefmutter lebt noch. Ich sehe sie auch ziemlich häufig. Sie ist mein Band zu der deutschen Sprache, sonst habe ich überhaupt keine Gelegenheit, Deutsch zu sprechen. Mein Bruder war zunächst lange in Mexico. Später hat er ein Stipendium für Deutschland bekommen. Er ist Chemieingenieur und hat sich auf Glas spezialisiert. Nach seiner Rückkehr nach Mexico hat er mit anderen zusammen eine große Glasfabrik aufgebaut. Vor achtzehn oder neunzehn Jahren ist er nach New York ausgewandert, weil er eine Möglichkeit gehabt hat, dort zu arbeiten und seine Frau Amerikanerin ist. Jetzt lebt er dort, aber er hat lange Zeit hier gelebt und war auch sehr mexicanisch. Er ist bis heute noch Mexicaner, er lebt mit einer Greencard, d.h. er kann arbeiten, aber er hat sich nicht nationalisiert, obwohl er es hätte tun können.

Sie haben in Mexico Medizin studiert und auch lange in diesem Beruf gearbeitet. Was waren die Gründe für Ihre Berufswahl?

Das war eigentlich ein Zufall, mein Onkel war Doktor und der Vater von seiner Frau, der als erster hergekommen war, war auch Doktor. Nachdem ich immer nur von Medizin umgeben war, war es mir eigentlich selbstverständlich, Medizin zu studieren. Es war auch ein Zufall, daß ich ein klinisches Laboratorium gehabt habe; denn seit dem zweiten Jahr des Studiums, sechs Jahre waren’s insgesamt, habe ich sehen müssen, wie ich Geld verdiene. Uns ist das Geld halt ausgegangen. Irgendein Bekannter hat einen Herrn Pils gekannt, der im amerikanischen Spital das Laboratorium geführt hat. Man hat mich ihm vorgestellt, und er hat Hilfe gebraucht. So habe ich das halt gelernt. Es war mir selbstverständlich, daß ich diese Arbeit weitermache, das einzige, in dem ich wirklich spezialisiert war. Ich habe lange im Laboratorium von Pils gearbeitet, später habe ich mein eigenes gehabt.

Sie haben erzählt, daß Sie einen ehemaligen mexicanischen Mitschüler geheiratet haben. Ist Ihr Mann schon vor langer Zeit gestorben?

Er ist schon lange tot, aber es ist noch viel länger her, daß ich nicht mehr mit ihm lebe. Wie er gestorben ist, das habe ich damals erst zehn Tage später erfahren. Wir hatten kein gutes Verhältnis. Es war gleichberechtigt in dem Sinn, daß ich mehr Einkommen nach Hause gebracht habe als  er. Aber sonst hat er gemacht, was er wollte. Er ist so erzogen worden, das war zum Teil nicht einmal seine Schuld. Kurz nachdem wir geheiratet haben, habe ich auf sehr mysteriösem Wege, von seiner Familie offensichtlich, ein Heftchen bekommen, was die Pflichten der Frau und die Pflichten des Mannes usw. aufgezählt hat. Da wurde sehr klar gesagt, was der Mann außerhalb des Hauses macht, ist nicht  Angelegenheit der Frau.
Ich glaube, daß das System an und für sich schlecht ist und daß die Männer darunter leiden und die Frauen auch, vielleicht die Frauen mehr als die Männer. Ich war nie dafür, daß die Frauen zuhause sitzen und auf den Mann warten sollen, das ist auch nicht das Richtige. Jeder Mensch hat das Recht, sich selbst zu entwickeln, und das ist individuell.

Ihre Wohnung ist zugleich auch ein Museum, in dem sich eine der größten Maskensammlungen Mexicos befindet. Außerdem sammeln sie vor allem auch Textilien. Wann haben Sie angefangen, sich für mexicanische Volkskunst zu interessieren?

Sofort. Ich habe kleine Sachen gekauft, weil ich kein Geld hatte, große Sachen zu kaufen. Es war damals alles viel billiger, und ich habe langsam angefangen, eine systematische Sammlung zu machen. Heute ist das ein Museum, und es kommen Besucher. Es ist nicht so, daß immer offen ist und den ganzen Tag Leute kommen; denn ich lebe hier. Es kommen Gruppen, hauptsächlich ausländische, die sich die Sammlung anschauen und denen ich sie erkläre. Das Museum ist auch ein Archiv, wo man lernen und studieren kann und wo Stücke für Ausstellungen ausgeliehen werden können.
Ich habe lange im Bereich der Volkskunst gearbeitet, zuerst im Fondo Nacional para el Fomento de las Artesanías (FONART) und später im Museo Nacional de Artes e Industrias Populares, das inzwischen geschlossen ist. Siebzehn Jahre lang habe ich im Museum gearbeitet und dadurch Kontakt mit den Volkskünstlern gehabt, den Leuten also, die die Sachen machen. Das ist ganz was anderes als tote Dinge zu kaufen. Ich bin schon vorher sehr viel herumgefahren im Land.  Meine Arbeit im Laboratorium mußte ich irgendwann aufgeben. Am Anfang bin ich in der Frühe ins Laboratorium gegangen, und so gegen zwölf, eins bin ich zum FONART gefahren, um dort am Nachmittag zu arbeiten, aber es ist der Moment gekommen, wo ich zu viel unterwegs war. Ich konnte die Arbeit im Laboratorium deshalb einfach nicht mehr weitermachen. Ich habe dort sehr gute Leute gehabt, aber es wäre irgendwie ungerecht gewesen, wenn sie einen festen Lohn gekriegt hätten und ich den Gewinn eingestrichen hätte, ohne weiter mitzuarbeiten. So habe ich es ihnen einfach überlassen.

Ich vermute, daß Sie sich sicher auch für die Traditionen und Lebensbedingungen der Indigena-Gruppen interessiert haben.

Ja, hinter jeder Maske und jedem Textil – ich hab da ungefähr 1200 Masken und über 2000 Textilstücke – steht eine Geschichte. Die Masken sind aus 25 der 32 mexicanischen Staaten, wenn man den Distrito Federal als Staat mitzählt. Die Masken stammen aus verschiedenen Zeiten. Die meisten sind verhältnismäßig neu, und manche sind ganz neu. Es sind aber Masken, die zum Tanzen benützt werden, keine dekorativen Stücke, die zwar sehr schön sind, aber die keinen wirklichen Wert haben für die Leute, die sie machen. Es gibt in jedem Ort einen oder mehrere Leute, die Masken schnitzen oder machen. Es gibt auch andere Materialien, nicht alle sind aus Holz. Sie machen genau die Masken, die für die Tänze gebraucht werden. Ihnen ist es ganz gleich, ob das der Tänzer kauft oder jemand, der von außen kommt. Und mir ist es auch gleich, ob die Maske neu ist oder alt. Natürlich sind alte ein bißchen anders und mit mehr Details gearbeitet. Es ist ein guter Vergleich, aber ich habe nichts gegen neue Dinge.

Sie sind Anfang der 80er Jahre einmal nach Österreich gereist. Wie ist es zu der Reise gekommen, und wie haben Sie das Land erlebt?

Ich bin 1981 oder 1982 in Wien gewesen, und zwar war ich die mexicanische Abgesandte für den World Crafts Council. Wir haben in Mexico damals eine Gruppe gehabt, mit den Leuten, die interessiert am Kunsthandwerk waren. Kunsthandwerk in deutscher Sprache ist eigentlich was anderes. Wir sagen Volkskunst, aber das ist sehr unterschiedlich, weil es in Mexico viele indianische Gruppen gibt, die eine ganz andere Auffassung von Volkskunst haben. Auf jeden Fall wurde ich zu diesem Kongreß geschickt, weil ich Deutsch sprechen und Mexico in der deutschen Sprache vertreten konnte.
Es war mir völlig fremd, nach Wien zurückzukommen. Es war wie eine schöne Stadt kennenzulernen, aber etwas, was nichts mit mir zu tun hat. Damals habe ich schon ganz anders gefühlt und gedacht, da war ich halt schon sehr Mexicanerin, obwohl es gewisse Dinge gibt, die man nie verlernt, z.B. die Pünktlichkeit. Für mich ist das furchtbar, zu spät zu kommen, hier ist es selbstverständlich, hier wird es nicht anders erwartet und so Kleinigkeiten, die man halt von Kind auf lernt, so wie mit dem Essen, ich bin nicht so 100% für Tortillas jeden Tag, aber im allgemeinen, was das Leben an und für sich ist, bin ich völlig Mexicanerin.
Die Österreicher haben sich nicht sehr geändert in der ganzen Zeit, sie sind noch genauso kleinbürgerlich, rassistisch und schauen so hinunter auf einen, der nicht so lebt wie sie. Das hängt wahrscheinlich auch davon ab, in welche Kreise man kommt, also in den World Crafts Council, da waren Leute von der ganzen Welt, alle Rassen, alle Auffassungen usw. Aber im Hotel hat man sofort gespürt, daß sie hauptsächlich die schwarzen Leute mit einem Haß angesehen haben, das ist unglaublich. Das erste, was man mich gefragt hat, war: „Sind Sie wirklich Mexicanerin?“ Da sag ich: „Ja“. Ich habe die huipil angehabt, so richtige mexicanische Kleidung. „Ja, Sie schauen doch aus wie unsereiner und Sie reden wie unsereiner, also wieso sind Sie Mexicanerin?“ Das ist ihm nicht in den Kopf gegangen. Ich war mit einer Freundin dort, die Mexicanerin von Geburt auf ist. Sie ist ein bißchen früher angekommen, weil sie auf einem anderen Weg hingefahren ist. So sagt er: „Also hör’n Sie mal, das Fräulein, die ist doch ‘ne richtige Schwarze“. Also, das war mein Empfang in Österreich. Ich kann da nicht mit.

Glauben Sie, daß es Unterschiede gibt zwischen jüngeren Leuten, die nach der Zeit des Faschismus geboren sind, und den älteren?

Das ist schwer zu sagen, ich war nicht lange genug dort, um das beurteilen zu können. Ich habe auch sehr wenig Kontakt gehabt. Es gibt natürlich, so wie überall, alle. Es gibt auch Rassismus hier in Mexico. Ich will nicht verallgemeinern.

Sie haben sich im Rahmen Ihrer Arbeit lange mit Indigenabewegungen beschäftigt. Stellen die Zapatisten für Sie eine neue Qualität da, und wie sehen Sie deren aktuelle Situation?

Eigentlich gibt es in allen Gruppen Widerstand heutzutage. Aber es gibt keine Gruppe außer den Zapatisten, die das so lange geheimgehalten hat, die trainiert und sich bewaffnet hat. Doch es ist überall Widerstand, und überall werden die Leute umgebracht, und überall werden neue Projekte gemacht, die sich gegen die Einheimischen richten. Das sind alles Projekte, in deren Folge das Land verkauft wird. Das Gesetz ist geändert worden, man kann das Land jetzt verkaufen, früher konnte man es nicht. (Die Regierung Salinas de Gortari änderte den Art. 27 der mexicanischen Verfassung, der u.a. die Unverkäuflichkeit des Gemeindelandes beinhaltete, siehe Anmerkung 3 des Beitrags „Im Urteil der Straßentafeln“ in dieser ila– die Red.) Oft werden die Leute dadurch genötigt, das Land zu verkaufen. Von Anfang an haben Ausländer das Land aufgekauft. Die Leute haben dann überhaupt nichts mehr. Man baut darauf ein großes Hotel, oder das Land wird abgeholzt, und Eukalyptusbäume werden gepflanzt, die werden nach vier Jahren wieder abgeschlagen, und es wird Papier daraus gemacht. Das Land ist danach kaputt; da kann man nichts anderes mehr anbauen. Oder es werden an den schönsten Stellen vom Meer große Hotels gebaut. Nun wollen sie auch Kasinos machen, bis jetzt ist es allerdings noch nicht gelungen, die Erlaubnis dafür zu bekommen. Auch Golfklubs werden überall in die kleinen Orte hineingesetzt. Es wird alles getan, um die Leute einfach auszurauben. Es gibt vielleicht zwölf oder fünfzehn Millionen Indígenas in Mexico und viele Mestizen, die noch ziemlich viel von Indígenakultur haben und die genauso arm sind.
Es ist eine große Sache, daß die Zapatisten den Mut gehabt haben zu sagen, wir wollen da nicht mehr mittun. Ihre Lage ist im Moment nicht sehr günstig, weil sich alles zu lang hinzieht. Alles, was sie tun, wird einfach umgedreht. Wenn kein Dialog und keine Verhandlungen stattfinden, weil die ersten Verhandlungen, die schon zu einem Resultat gekommen sind, nicht eingehalten werden, so beschuldigt der Staat die Zapatisten dafür. Nachdem sich alles schon so lang hinzieht, verlieren die Leute im allgemeinen das Interesse. Doch die Militarisierung im Land ist furchtbar und wird immer schlimmer. Wie das enden wird, ist schwer zu sagen. Es sind noch drei Jahre, bis ein neuer Präsident gewählt wird. Das ist eine lange Zeit.

Sie sind seit 1989 Mitglied in der PRD, der Partei von Cuauhtémoc Cárdenas. Am 6. Juli kandidiert Cárdenas für das Amt des Gouverneurs im Distrito Federal, und gleichzeitig finden die Wahlen zum Parlament statt. Wie schätzen Sie den Ausgang der Wahlen ein?

Es gibt eine große Chance, daß Cuauhtémoc die Gouverneurswahlen im Distrito Federal gewinnt. Aber es ist kaum möglich, daß eine der Parteien eine wirkliche Mehrheit sowohl für das lokale Haus als auch für das federale Haus bekommt. Es ist anzunehmen und zu hoffen, daß die PRI nicht mehr die Mehrheit hat und einfach alles überstimmen kann, daß man jedes neue Gesetz diskutieren muß. Es ist zu hoffen, denn ich glaube nicht, daß eine der drei großen Parteien wirklich gewinnen kann. Das ist eine vollständig neue Angelegenheit für Mexico. Diese Lage hat es noch nie gegeben, seitdem die PRI existiert. Sie ist seit über 65 Jahre die einzige Mehrheitspartei. Die Abgeordneten sind eigentlich nur dazu da, ja zu sagen, für alles, was der Präsident vorschlägt. Sonst haben sie keine Funktion. Und das muß sich ändern, damit sich das Land ändert.

Sie haben sich schon immer für die Indígenagruppen oder auch für den Kauf des Edificio Condesa, wo sie noch heute drin wohnen, durch die Mieterinnen und Mieter engagiert. Aber was hat den Ausschlag gegeben, daß Sie in den letzten Jahren auch parteipolitisch so aktiv geworden sind?

Weil sich die Lage sehr zum Schlimmen in dem Land verändert hat und weil ich fühle, daß ich dem Land was schuldig bin. Schließlich war es zu der Zeit von Hitler nicht leicht, in einem Land aufgenommen zu werden und gleich behandelt zu werden wie jeder andere, der hier geboren ist, und dieselben Möglichkeiten zu haben, um etwas im Leben zu werden, d.h. in dem zu arbeiten, was einem halt gefällt. Und ich finde das heute noch großartig und einzigartig. Es ist nicht mehr so in Mexico, und es ist nicht mehr so auf der ganzen Welt, und das hat mich jetzt angespornt.

Mit Ruth Deutsch de Lechuga sprach Ulrike Schätte am 15. April und 6. Mai 1997 in Mexico-Stadt.