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Fluchthilfe in Marseille

Gilberto Bosques’ mexicanisches Generalkonsulat
Fritz Pohle

Im Frühjahr 1944 kehrte der mexicanische Diplomat Gilberto Bosques, zuletzt Generalkonsul in Marseille und Geschäftsträger seines Landes bei Vichy-Behörden, nach Mexico zurück. Zusammen mit seiner Familie und seinen Mitarbeitern war er über ein Jahr unter haftähnlichen Bedingungen im Bad Godesberger Hotel Dreesen interniert gewesen, bevor er im Zuge der Vereinbarungen der kriegsführenden Mächte über den Austausch von Zivilisten und Verwundeten den europäischen Kontinent verlassen und sich von Lissabon aus mit Reiseziel New York einschiffen konnte. Soweit ein keineswegs ungewöhnliches Diplomatenschicksal während des zweiten Weltkriegs; außergewöhnlich waren aber die Umstände der Ankunft von Gilberto Bosques in Mexico-Stadt: am Bahnhof Buenavista hatten mehrere Tausend spanische Flüchtlinge acht Stunden auf das verspätete Eintreffen des Zuges aus den USA gewartet, um dem Marseiller Konsul und seinen Mitarbeitern dann einen triumphalen Empfang zu bereiten.1

Die engagierte Flüchtlings- und Asylpolitik Mexicos im Vichy-Frankreich der Jahre 1940-42, in deren Folge auch zahlreiche deutsche Exilanten nach Mexico kommen sollten, ist in unserem Jahrhundert der Flüchtlingsbewegungen einzigartig und beispielhaft. In manchen Einzelheiten nur wenig bekannt, war sie eng mit dem mexicanischen Engagement für die spanische Republik verknüpft. Als einziges Land der westlichen Welt hatte Mexico die republikanische Sache vor dem Völkerbund und im Rahmen seiner Möglichkeiten sogar durch Waffenlieferungen unterstützt. Mit dem Ende des spanischen Krieges rückte das Schicksal der spanisch-republikanischen Flüchtlinge in den Vordergrund des mexicanischen Interesses. Als im Frühjahr 1939 eine halbe Million Menschen über die spanisch-französische Grenze drängte, machte Präsident Cárdenas den geschlagen Republikanern ein generelles Asylangebot, das bis zum Beginn des Krieges im September 1939 bereits von Tausenden angenommen worden war. Die Mitarbeiter der mexicanischen Konsularbehörden in Frankreich waren schon zu diesem Zeitpunkt vornehmlich mit spanischen Flüchtlingsbelangen befaßt. Unter Generalkonsul Bosques war in Paris ein Stab tätig, dem sich auch frühere Madrider Botschaftsangehörige zugesellt hatten und der in der Folgezeit noch durch mexicanische Diplomaten verstärkt werden sollte, die zuvor in Norwegen, Belgien und anderen von der nazideutschen Kriegsmaschine überrollten Ländern tätig waren. Das nach der französischen Kapitulation im Juni 1940 von Paris nach Marseille verlagerte Generalkonsulat war keine vornehmlich repräsentative Vertretung, sondern ein leistungsfähiges Arbeitsgremium. Die Gruppe Mexicaner, die Ende 1942, nach der deutschen Besetzung Südfrankreichs, von der Gestapo festgesetzt und interniert werden sollte, umfaßte neben der Frau und den drei Kindern des Konsuls immerhin 39 Personen.

Die Aufgaben, die sich den Vertretern Mexicos in Marseille stellen sollten, waren aber auch beträchtlich. Zum Zeitpunkt der französischen Kapitulation befanden sich noch über 100 000 spanische Flüchtlinge, denen Cárdenas Asyl angeboten hatte, in den französischen Lagern. Auslieferungsersuche der Franco-Regierung lagen vor. In dieser Situation suchte die mexicanische Regierung nach Möglichkeiten, diesen Spaniern Schutz zu gewähren. Am 23. Juni 1940, zwei Tage nach den deutsch-französischen Waffenstillstandsvereinbarungen, wies Cárdenas seinen Gesandten in Frankreich, Luis I. Rodríguez, an, mit der Kapitulationsregierung des Marschalls Pétain in Verhandlungen über das Schicksal der republikanischen Flüchtlinge zu treten. Am 22. und 23. August 1940 ratifizierten Mexico und Vichy ein Abkommen, das Frankreich verpflichtete, keine politischen Auslieferungen spanischer Flüchtlinge vorzunehmen, während die mexicanische Seite sich bereiterklärte, alle Spanier auf französischem Territorium, die das Asylangebot in Anspruch nehmen wollten, aufzunehmen, ihren Überseetransport zu organisieren und die französischen Behörden auch ökonomisch bei der Finanzierung des Unterhalts der Flüchtlinge bis zu ihrer Abreise zu unterstützen. „Viel Herz, aber wenig internationale Erfahrung“, soll der Kommentar Pétains zu dem mexicanischen Vorhaben gelautet haben.2

Aktivitäten des Konsulats

Natürlich war Mexico, das nicht einmal über eine eigene Handelsflotte verfügte, nicht in der Lage, 100 000 Spanier zu evakuieren, geschweige denn eine solche Flüchtlingszahl zu integrieren. Lediglich 4000 der etwa 15 000 spanischen Republikaner, die bis 1942 nach Mexicos kommen konnten, verließen Frankreich auf der Grundlage des Abkommens vom August 1940. Jedoch schuf es für die spanischen Republikaner, die in dem von Flüchtlingsströmen aus dem besetzten Belgien und Nordfrankreich überschwemmten unbesetzen Teil des Landes einer ungewissen Zukunft entgegenblickten, einen relativ geschützten Status, der von Bosques und seinen Mitarbeitern für eine Vielzahl von Hilfsmaßnahmen genutzt werden konnte. Dazu gehörte zunächst die Betreuung und Unterbringung der Abreisebereiten. Das Konsulat erwirkte in Verhandlungen mit der Marseiller Präfektur die Anmietung zweier Güter bei Marseille, das Château La Reynarde, in dem ca. 850 Personen untergebracht werden konnten, und das Château Montgrand, das mit ca. 500 Frauen und Kindern belegt wurde. Nach Einrichtung dieser Flüchtlingsunterkünfte, in denen es auch zur Organisierung eines regen kulturellen Lebens bis hin zur Improvisierung von Lorca-Inszenierungen kam, sollen täglich bis zu 2000 Briefe und 300 Telegramme von hilfebedürftigen Spaniern das Konsulat erreicht haben.

Die Unterhaltung dieser und weiterer Flüchtlingsunterkünfte sowie die Beantwortung und Bearbeitung der großen Zahl von Hilfsersuchen erforderte die Organisierung unterschiedlichster Hilfsmaßnahmen neben der eigentlich konsularischen Arbeit, die allesamt unter Federführung des Konsulats in schwierigen Verhandlungen mit der französischen Bürokratie durchzusetzen waren. Bosques benennt u.a. die Einrichtung eines medizinischen Dienstes in Kooperation mit spanischen Ärzten, einer juristischen Abteilung, die mit französischen Anwälten kooperierte, und eines Fachvermittlungsdienstes für qualifizierte Arbeitskräfte, der nicht wenige Flüchtlinge vor der Verschleppung zu unqualifizierten Zwangsarbeiten bewahrte. Besonders schwierig gestaltete sich die Betreuung der in den Lagern internierten und isolierten Flüchtlinge. Schon für den Aufbau der notwendigsten Kommunikation mußten, so Bosques, „geeignete Wege“3 gesucht und gefunden werden. Das dürfte ganz allgemein für einen großen Teil der Aktivitäten des Konsulats gegolten haben: daß sie nämlich nur am Rande und außerhalb der Vichy-Legalität erfolgen konnten und deshalb auch nur in spektakulären Einzelfällen bekannt geworden sind, genannt sei etwa der Fall des ehemaligen Regierungschefs Negrín, der Frankreich mit dem Paß des mexicanischen Diplomaten Alfonso Castro Valle verließ.4

Die mexicanische Solidarität beschränkte sich keineswegs auf spanische Flüchtlinge. Gleich nach der französischen Kapitulation stellte Gilberto Bosques einer größeren Zahl in Frankreich gefährdeter deutschsprachiger Exilanten mexicanische Einreisevisa aus. Dazu gehörten die Schriftsteller Franz Werfel, Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin, Anna Seghers, Friedrich Wolf, Ernst Weiss und Rudolf Leonhard, die Publizisten Konrad Heiden, Emil Julius Gumbel und Alfred Kantorowicz, aber auch die KPD-Funktionäre Franz Dahlem und Erhardt Eißler. Eine regierungsoffizielle Mitteilung in Mexico-Stadt bestätigte am 15. August 1940 die geplante Aufnahme dieser und weiterer deutschsprachiger Exilanten und betonte, daß ihre Aufnahme für Mexico eine Genugtuung sei, da es sich um „Repräsentanten der deutschen Kultur“ und um „Kämpfer für die Sache der Freiheit und Gerechtigkeit“ handle.5 Von den Genannten kam nur Anna Seghers nach Mexico; abgesehen von Weiss (der in Paris Selbstmord beging) und Dahlem (der an die Gestapo ausgeliefert wurde) wählten sie das Exil in den USA oder anderen Ländern bzw. erreichten ihr Reiseziel Mexico nicht.

Schlupfloch für Linke

Die Liste dokumentiert aber das politische und kulturellle Spektrum, dem die mexicanische Hilfsbereitschaft galt. Sie wurde vornehmlich von kommunistischen und anderen linken Exilierten deutscher und anderer nichtspanischer Nationalitäten, die keine Aussicht auf ein USA-Visum hatten, in Anspruch genommen, so daß Mexico in den Jahren des zweiten Weltkriegs zum wichtigsten Exilzentrum des europäischen Kommunismus in Übersee wurde. Die Arbeit des Marseiller Generalkonsulats ist deshalb schon seinerzeit und verstärkt in den Jahren des kalten Krieges Gegenstand politischer Kontroversen in Mexico gewesen. Mauricio Freco, ein Mitarbeiter Gilberto Bosques’, sah sich schon 1950 veranlaßt, die Diskussion u.a. durch die Publikation eines exemplarischen „Berichts über Schutzmaßnahmen im März 1941“ zu versachlichen, den sein Konsul an das Außenministerium gerichtet hatte. Bosques schrieb hier über Hilfsmaßnahmen für Ausländer nichtspanischer Nationalität:

„Wir fuhren fort, unsere Dienste den nichtspanischen Ausländern zur Verfügung zu stellen, die – nach Erhalt einer Einreisegenehmigung für unser Land – die Intervention dieses Generalkonsulats erbaten, um aus den Konzentrationslagern entlassen zu werden und die notwendigen Genehmigungen zu erhalten, um in diese Hafenstadt zur Fertigstellung ihrer Reisedokumente zu kommen; oder wir bemühten uns um die Erteilung von Genehmigungen für freien Aufenthalt in Frankreich bis zu ihrer Einschiffung. Auch für die Erteilung von Ausreisegenehmigungen aus französischem Territorium wurden Interventionen zu ihren Gunsten vorgenommen und ebenfalls für die Erteilung von Transitvisa südamerikanischer Länder, die aufgrund der fehlenden Schiffsverbindungen notwendig sind, um nach Mexico zu kommen. (...) In 210 Fällen wurden in diesem Monat unsere Dienste in Anspruch genommen.“6

Wie bei den spanischen Flüchtlingen galt es auch hier, die im Einzelfall „geeigneten Wege“ zur Durchführung der Hilfsmaßnahmen zu finden. Das Politbüromitglied der KPD Paul Merker, später Leiter der kommunistischen Exilgruppe in Mexico, konnte im Mai 1942 mit falschen Papieren Frankreich verlassen. Das Marseiller Konsulat hatte ihm auf den Namen „Sigmund Ascher“ ein Mexico-Visum ausgestellt.7 Zwei Jahre später, bei einem Bankett der deutschen Exilanten zu Ehren des aus deutscher Internierung heimgekehrten Konsuls, hatte Merker Gelegenheit, sich zu bedanken. Bosques sei „der wirkliche Autor vieler antifaschistischer Bücher, die hier in Mexico erscheinen konnten, denn die Voraussetzung für ihr Entstehen und ihr Erscheinen war, daß Professor Bosques die Schriftsteller vor dem Zugriff der Gestapo retten half.“8 Eines dieser Bücher war der auf der Überfahrt entstandene und dann in Mexico vollendete Roman „Transit“ von Anna Seghers, in dem das Marseiller Konsulat eine gewisse Rolle spielt:

„Unzählige glänzende Augenpaare richteten sich auf das Tor. Für diese Männer und Frauen war das Konsulat keine Behörde, ein Visum kein Kanzleiwisch. In ihrer Verlassenheit, die von nichts übertroffen wurde als von ihrer Zuversicht, nahmen sie das Haus für das Land und das Land für das Haus. Ein unermeßliches Haus, in dem ein Volk wohnt, das sie einlud.“

  • 1. vgl. „Freies Deutschland“ (México), 3. Jg., Nr. 6, Mai 1944, S. 12; vgl. hierzu und zu den folgenden Darlegungen auch die Erinnerungen von Gilberto Bosques (Historia oral de la diplomacia mexicana. México D.F.: Secretaría de Relaciones Exteriores 1988) und meine Darstellung in „Das mexikanische Exil“ (Stuttgart: Metzler 1986, S. 4 ff)
  • 2. vgl. Luis I. Rodríguez: Ballet de sangre. La caída de Francia. México D.F.: Ediciones Nigromante 1942, S. 233
  • 3. Bosques: Historia..., a.a.O., S. 55
  • 4. vgl. Lois Elwyn Smith: Mexico and the Spanish republicans. Berkeley: University of California Press 1955, S. 213
  • 5. DNB-Meldung Nr. 228, Eigendienst, 15.8.1940, abends, Blatt 132 (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes)
  • 6. Mauricio Fresco: La emigración republicana española. Una victoria de México D.F.: Editores Asociados 1950, S. 49
  • 7. Mündliche Mitteilung von Gertrude Duby-Blom, 17. 8. 1978
  • 8. „Freies Deutschland“ (México), 3. Jg., Nr. 7, Juni 1944, S. 24