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Die Funktion der Erinnerung

Über die Bedeutung der Zeugnisliteratur

Am 21. Juni 1993 hatten der AStA der Uni Bonn, die ila und der Buchladen „Le Sabot“ Mauricio Rosencof zu einer Veranstaltung eingeladen. In seinem Redebeitrag begründete er mit Beispielen aus Europa und Lateinamerika, wie wichtig es ist, daß die, die Unterdrückung, Verfolgung und Folter erlebt und erlitten haben, darüber Zeugnis ablegen. Denn nur so kann das, was geschehen ist, im kollektiven Gedächtnis behalten und verhindert werden, daß es dem Vergessen anheimfällt oder abstrakte Statistik wird. Dies ist umso wichtiger, da die Täter und Sieger ihre Version auf jeden Fall zu Protokoll geben, um zu rechtfertigen oder zu vertuschen, was geschehen ist.

Mauricio Rosencof

Ich will mit einem kleinen Vergleich beginnen: Während wir einen bestimmten historischen Moment erleben oder irgendetwas in die Tat umsetzen, können wir in der Regel die Dimensionen – oder auch die mangelnden Dimensionen – nicht erfassen, die sie für uns später einmal, wenn wir uns an sie erinnern, haben werden. Beispielsweise ist uns nie klar, wann denn genau der Zeitraum ist, den wir später die beste Zeit des Lebens nennen werden. Erst, wenn wir daran zurückdenken und vergleichen, wird uns bewußt, daß jene Kindheitstage oder jene erste Jugendliebe zu den wunderbarsten Phasen unseres Lebens gehörte.

Genauso, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, war es, als El Ñato und ich uns damals schworen, unsere Erfahrungen aufzuschreiben. Wir wußten zu dem Zeitpunkt nicht, daß wir damit die Welt der Zeugnisliteratur betraten, und wir dachten auch nicht darüber nach, daß wir nichts anderes waren als ein Glied in einer langen Kette von Zeugnissen in der Geschichte der Menschheit.

Die Sache war so: Wie Sie wissen, verbrachten wir elfeinhalb Jahre in völliger Isolationshaft. Ñato und ich hatten es geschafft, eine Art eigenes Morsealphabet zu erfinden, so daß wir uns mehr als zehn Jahre davon in Klopfsprache durch die zwischen uns liegende Wand unterhalten konnten. Wir hatten mit keinem menschlichen Wesen Kontakt, keine einzige Nachricht aus der Außenwelt erreichte uns. Oft bekamen wir nicht einmal Wasser, und wir mußten unseren eigenen Urin trinken. Anläßlich der Verhaftung von neun Führern unserer Organisation hatten die Militärs, die bisweilen die Tugend der Ehrlichkeit haben, erklärt, daß es zwar nicht möglich gewesen war, uns bei der Gefangennahme umzubringen, aber daß sie stattdessen nun alles daransetzen würden, uns in den Irrsinn zu treiben. Zwei von den neun wurden tatsächlich verrückt. Einer starb im Kerker, und Raúl Sendic starb einige Jahre nach seiner Freilassung an Ansteckungen, die er sich während seiner Haftzeit geholt hatte. Ñato und ich erlebten mit, wie ein Dritter, Pepe, der in der Nähe von uns festsaß, allmählich durchdrehte, weil wir seine Schreie hören konnten. So kam es, daß wir eines Tages, als wir wieder einmal durch die Wand per Klopfzeichen miteinander sprachen, schworen, daß, wenn einer von uns beiden irgendwann einmal dort herauskäme, er von all dem, was wir erlebt hatten, Zeugnis ablegen würden.

Erst jetzt werde ich mir richtig klar darüber, was ein solches Zeugnisablegen bedeutet und wie unendlich wichtig es ist. Denn der Zeuge ist derjenige, der den informiert, der unwissend ist, und er übernimmt damit die Funktion der Erinnerung, um nichts dem Vergessen anheim fallen zu lassen, gerade in Zeiten wie heute, wo es hierzulande wie dort drüben so wichtig ist, die Erinnerung und das Wissen zu bewahren. Deswegen ist das Aufzeichnen jener Erinnerungen (zu dt. erschienen unter dem Titel „Wie Efeu an Mauer“) zu einem noch wichtigeren Faktum geworden, als Ñato und ich im Moment der Niederschrift dachten.

Mir fällt dazu etwas ein, was kürzlich passierte. Da hat jemand eine Anstrengung unternommen, sich an etwas zu erinnern. In Uruguay ist eine psychiatrische Anstalt eine Ansammlung von armen, bedauernswerten Menschen. 800 Leute sind dort zusammengepfercht, von denen nie jemand geheilt wurde. Für sie bestimmte Medikamente etwa werden ihnen nie ausgehändigt, sondern werden anderswo verhökert; die Ernährung ist schlecht; sie haben nichts, womit sie sich die Zeit vertreiben könnten. Kurz, ihre Lage ist entsetzlich. Genau in solch einer Anstalt begann eine Gruppe von PsychiaterInnen, die Verbindungen zu unserem Theater – übrigens ein bedeutendes Theater – haben, mit den PatientInnen eine Theatergruppe aufzubauen. Sie begannen mit den Proben zu zwei kurzen Stücken, die ich geschrieben hatte. Eines Tages ging ich dorthin, traf mich mit der Truppe und sah mir eine Probe an. Ehrlich gesagt, ich fühlte mich wie zu Hause. Als die Probe begann, setzte sich einer der besonders Kranken neben mich und begann die Rollen aufzusagen, nicht nur seine eigene, sondern die aller auf der Bühne. Dabei betrachtete er mich von der Seite, um zu sehen, wie ich reagiere. Es war phantastisch und gleichzeitig ergreifend, zu sehen, wie AnstaltsinsassInnen, die Messer und Gabel immer in ihren Gürtel gesteckt bei sich tragen, weil sie sonst geklaut werden, ein Stück proben, Rollen sprechen und dabei Spaß haben. Während die Probe so vor sich ging, kam ein anderer Verrückter mit einer dieser typischen Plastiktüten aus dem Supermarkt voller Manuskripte herein. Von der Tür aus schaute er mich an, lächelte und zeigte mir die Plastiktüte. Die ganze Probe über benahm er sich wie ein Uhrpendel. Er ging weg, kam zurück, steckte den Kopf durch die Tür, verschwand wieder und so fort. Schließlich war die Probe vorüber, wir verließen den Saal, und dieser Mann, der vielleicht 60 Jahre alt gewesen sein mag, kam mit einem Lächeln auf mich zu, steckte die Hand in die Tüte mit den Manuskripten, reichte mir ein zusammengefaltetes Blatt und sagte: „Brief für meinen Bruder, Brief für meinen Bruder“. Darauf machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand. Ich faltete das Blatt natürlich auseinander – und es war leer, wie alle anderen Blätter in seiner Tüte auch. Ich spürte, daß dieser ungeschriebene Brief für seinen Bruder ein so intensives Zeugnis war, daß es weder Worte noch Buchstaben gibt, dies auszudrücken.

Da mußte ich an die Gefangenen denken, die das Bedürfnis hatten, sich mitzuteilen, solch einen Bruder zu haben, und mir fielen die Konzentrationslager ein, wo Leute damals wie heute überall in der Welt das Bedürfnis spüren, einen Brief loszuschicken, auch wenn er nur aus einem leeren Blatt bestünde.

Wir wie die anderen, wir wissen alle, wie wichtig diese Gedächtnisstütze in Form eines niedergeschriebenen Zeugnisses ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei, drei Zitate vorlesen, die das unterstreichen. Das erste stammt von einem Überlebenden des Warschauer Ghettos. Er schreibt:

„Es machte der SS Spaß, uns immer wieder zu sagen, daß wir keinerlei Chance hätten, lebend zu entkommen. Ein Punkt, den sie stets mit besonderem Vergnügen betonten, war, daß nach dem Krieg die übrige Welt nicht glauben würde, was geschehen war. Vielleicht würde es Gerüchte oder Spekulationen geben, aber keinerlei schlüssigen Beweis. Die Leute würde schließlich zu der Auffassung gelangen, daß das Böse in dieser Größenordnung schlicht nicht möglich sei.“

Das heißt, nicht nur wir gaben Zeugnis ab, sondern auch andere. Und manchmal ist es nötig, an sie zu erinnern, um sich die Ähnlichkeit zwischen einer Epoche hier und einer im Rio de la Plata vor Augen zu führen.

Nach dem Militärputsch in Argentinien verschwanden 30 000 Menschen. Es gibt Leute, sogar in Argentinien selbst, die bis heute nicht glauben und abstreiten, daß es so etwas gegeben hat. Daher ist es ganz wichtig, die Planhaftigkeit in Erinnerung zu rufen, mit der die Militärs vorgingen. Zu der Art und Weise, wie sie ihre Kontrolle auszuüben gedachten, erklärte einer der Militärs, General Iberico San Juan, öffentlich:

„Zuerst werden wir die Subversiven umbringen. Danach werden wir die Kollaborateure töten. Und dann die Sympathisanten. Darauf die Unentschiedenen. Und zuletzt die Gleichgültigen.“

Ich glaube, die Militärs legen zuweilen eine geradezu beneidenswerte Ehrlichkeit und Klarheit an den Tag. Denn ich kenne auch das genaue Gegenstück zu dieser Geschichte. Es handelt sich dabei um ein Gedicht, das ein deutscher Pastor (Martin Niemöller – die Red.) als Gefangener der Nazis hinterließ. Er machte die gleiche Erfahrung, nur stand er auf der anderen Seite:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen: ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; denn ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

In letzter Zeit sind in Uruguay die Todesschwadronen wieder aufgetaucht. Ihre Mitglieder könnten heißen wie der Titel eines italienischen Spielfilms, nämlich „Die ewigen Unbekannten“ („Los desconocidos de siempre“). Sie brachten bereits zwei Genossen von uns um, verletzten einen weiteren. Trotzdem leugnen die Presse, eine Reihe von Politikern wie auch der Staatspräsident die Existenz von Todesschwadronen in Uruguay. Gerade deswegen ist es von besonderer Wichtigkeit, zu informieren und damit zu erreichen, daß die Leute die Erinnerung nicht verlieren. Das heißt, irgendwie von diesen entsetzlichen Vorgängen, die hier wie dort passierten, zu erfahren, sie stets im Gedächtnis zu bewahren und zu wissen, daß sie immer wieder geschehen können. Und daß sie sogar schon hier wie dort geschehen!

Vor kurzem war ich in Amsterdam, wo unser Buch „Wie Efeu an der Mauer“ herauskam. Auf einem Begleitfaltblatt stand in mehreren Sprachen eine kleine Einführung in die Geschichte des Buchs. Und ich sah, daß Informationen, wie auch Statistiken, bisweilen nicht die wahre Dimension dessen vermitteln, was sie eigentlich aussagen sollten. Bei besagter Gelegenheit sah ich plötzlich eine Ähnlichkeit zwischen einer Information von hier und einem Zeugnis, das ich aus irgendwelchen Gründen heruagegriffen hatte. Bei der Information ging es um die Familie von Anne Frank, die im Zweiten Weltkrieg in einem Haus versteckt war, denunziert wurde und in ein Konzentrationslager verschleppt wird. Über das endgültige Schicksal dieser Familie heißt es in einem Absatz folgendermaßen:

„Anna und Margot (ihre Schwester) starben im März 1945 in Bergen-Belsen an Typhus, einige Wochen nur vor der Befreiung des Konzentrationslagers.“

Einerseits ist das sicher eine korrekte Information. Leute können an Typhus, an Krebs oder bei einem Unfall sterben. Andererseits aber wird jemand, der an ihrer Seite war und sie sterben sah, ein Zeugnis hinterlassen. Und so jemand, der auch in jenem Konzentrationslager war, schrieb die folgenden Sätze, ohne natürlich zu wissen, daß Anne Frank zu den Toten gehörte:

„Alle in den Baracken litten an Typhus. Typhus befiel die Menschen in Bergen-Belsen in seiner gewaltsamsten, schmerzhaftesten und tödlichsten Form. Er führte zu Durchfall, der nicht mehr zu kontrollieren war. Dieser Durchfall überschwemmte die Böden der mehrstöckigen Pritschen, tropfte durch die Holzspalten der oberen Pritschen auf die Gesichter der Frauen, die innen lagen, mischte sich mit Blut, Eiter und Urin und bildete auf dem Fußboden der Baracken eine einzige stinkende und klebrige Masse.“

In dem Buch, das Ñato und ich gemeinsam geschrieben haben, riefen wir alle, die Gefängnis und Folter erlebt haben, auf, ebenfalls irgendein Zeugnis über ihre Erfahrungen zu hinterlassen, das zu einem großen Denkmal dieser Zeit, in der wir lebten, beitragen könnte.

Aus Zufall blätterte ich kürzlich in den Briefen Che Guevaras und stieß da auf einen Absatz aus einem Brief Che Guevaras an seine Mutter aus dem Jahre 1956. 1956 fand in Uruguay ein großer Reisarbeiterstreik statt. Während dieser Zeit lebten Raúl Sendic und ich gemeinsam in einer sehr bescheidenen Hütte. Wir arbeiteten beide als Agitatoren, er für die Sozialistische Partei, ich für die Kommunistische Partei, beide in unserer Funktion als Journalisten. Damals führten wir ein Gespräch, das ich nie mehr wieder vergessen werde und das auch in dem Buch „Die Rebellion der Zuckerarbeiter“ auftaucht. Irgendwie war dieses Gespräch wohl für beide der Auslöser, der unseren späteren Werdegang bestimmen würde. Eines Morgens bei Sonnenaufgang fiel unser Blick auf die Arbeiter, die ihre Feuerchen in Gang brachten, um den Mate zuzubereiten. Ihre Ponchos und breitkrempigen Sombreros hoben sich dabei scharf gegen den Himmel ab. „Che“, sagte ich zu Raúl, „sieh dir das an, das sieht ja aus wie eine Armee.“ Und er, der immer viel präziser war als ich, antwortete: „Das ist eine Armee.“ Zu jenem Zeitpunkt, während dieses Streiks in Uruguay, war Che schon mit Fidel Castro zusammen. Sie bereiteten die Überfahrt der „Granma“ vor und trainierten unter der Leitung von Major Ballo, eines Offiziers des Spanischen Bürgerkriegs. In dieser Situation schreibt Che Guevara einen Brief an seine Mutter. Selbstverständlich erklärt er ihr nicht, in welchem Unternehmen er steckt, doch er läßt es durchblicken. Und er schreibt – in einer Anspielung auf Don Quijote de la Mancha – folgendes.

„Ich habe beschlossen, mich der herrschenden Ordnung der Dinge entgegenzustellen, den Schild im Arm, alles ist reine Phantasie. Und danach, falls die Flügel der Windmühlen mir den Kopf nicht abreißen, werde ich schreiben...“

Nun, das ist im Grunde genau das, was ich jetzt mache.

Übersetzung und Bearbeitung: Gaby Küppers, Karin Leukefeld und Danuta Sacher